„Schutzerziehung“ – eine neue pädagogische Vision – von Dr. G. Haug-Schnabel

Dr. Gabriele Haug-Schnabel ist Erstautorin des Buches „Wie man Kinder stark macht. So können Sie Ihr Kind erfolgreich schützen – vor der Flucht in Angst, Gewalt und Sucht“ (Zweitautorin: Barbara Schmid-Steinbrunner), Oberstebrink-Verlag, Ratingen.

Die aktuellen Erziehungsziele sind trotz kaum überschaubarer Vielfalt auf drei Kernanforderungen zu reduzieren: Selbstständigkeit, Bildung und soziale Kompetenz. Diese Anforderungen stellen Eltern und Pädagogen an kindliche Entwicklungsverläufe, wenn diese als erfolgreich bezeichnet werden sollen. Den Anspruch, diese Ziele zu erreichen, haben Eltern und professionelle Entwicklungsbegleiter auch an sich selbst und richten ihre Erziehungsanstrengungen entsprechend aus.

Diese erzieherischen Anforderungen stellen einen Teil der auf das Entwicklungsgeschehen wirkenden Impulse dar. Sie sind der Pädagogik aufgrund forschungshistorischer Tradition zugänglich, und ihre Diskussion ist vertraut. Erst der interdisziplinäre Austausch machte es möglich, in diese Überlegungen auch Besonderheiten unserer evolutionären Ausstattung mit einzubeziehen, die gleichermaßen auf den Entwicklungsverlauf Einfluss nehmen. Es geht um die Berücksichtigung angeborener Bedürfnisse und um die Frage, inwieweit auch diese zum Erreichen möglicher Entwicklungsziele notwendig sein können.

Der Begriff Schutzerziehung etabliert sich im Moment für die Beschreibung von Erziehungsvorstellungen, die sowohl evolutionär geschaffene Bedürfnisse und Verhaltensstrategien berücksichtigen, als auch kulturelle Ansprüche und deren Ziele im Auge behalten. Die Schutzerziehung hat es sich zur Aufgabe gemacht, beide Einflussbereiche zu überdenken und eine zu große Diskrepanz zwischen ihren jeweiligen Zielvorstellungen zu vermeiden, um ein „mismatch“, eine fehlende Passung zu verhindern. Wir wissen heute, dass bestimmte menschliche Verhaltenstendenzen durch Impulse der Natur mitbedingt sind. Hier gilt es, zwischen aktuell noch wichtigen und daher zu stärkenden Faktoren aus unserem evolutionären Rucksack und mit unseren heutigen Lebensvorstellungen nicht mehr zu vereinbarenden biologischen Erbstücken unterscheiden. Die aktuell wichtigen Faktoren müssen, um ein aktives, motiviertes und außerdem gruppenfähiges Individuum heranreifen zu lassen, durch entsprechenden Input zur Entfaltung kommen, während gefährliche biologische Erbstücke vor allem im Hinblick auf ein humanes Zusammenleben nach Weltbürgernormen kognitiv bearbeitet und im Laufe der Sozialisation kulturell überformt werden müssen. Das Wissen über die Herkunft unserer Verhaltenstendenzen gibt uns die Möglichkeit, sie zu differenzieren und sie gezielt mit kulturellen Mitteln zu beeinflussen.

In der Schutzerziehung stimmen Eltern und andere am Kind interessierte Bezugspersonen ihr Betreuungs- und Erziehungsengagement auf das Kind und seine Entwicklungsvoraussetzungen ab. Sie arrangieren ihm bewusst seine Lern- und Erfahrungsfelder so, dass sie einladende Entwicklungsanreize bieten, von sich aus aktiv zu werden. Innere Zugewandtheit und Wissen über das individuelle Kind, seinen altersgemäßen Entwicklungsstand und seine evolutionäre Ausstattung sind bei dieser Form der Förderung wesentlich. Stimmen diese Voraussetzungen, ist Schutzerziehung mit Primärprävention vor Angst, Gewalt und Sucht identisch. Der Erziehungsalltag hat dann alle Chancen, ein Kinderleben reicher und elterliche wie institutionelle Erziehung nachhaltiger wirksam werden zu lassen. Eltern gestalten den Erstkontakt mit dem Leben. Eltern bieten beim Zusammensein in der Familie die Voraussetzungen, die nötig sind, damit ein Kind ein selbstbestimmtes Leben führen und seinen Weg gehen kann, geschützt vor übermäßiger Angst, unkontrollierter Gewalt und ohnmächtig machenden Abhängigkeiten.

Schutzerziehung,

  • also nicht, weil ein Kind schwach, defizitär und deshalb immer schutz- und förderungsbedürftig ist, man eine tickende Risikobombe vor Augen hat,
  • sondern weil Erwachsene dem kompetenten Kind mit eigenen Impulsen, kindgemäßen Fähigkeiten und selbstgeregelten Lösungswegen ein Umfeld bieten möchten, in dem es die Chance hat, diese, seine Potenzen zu realisieren.

Wir kennen heute entwicklungsförderndes Elternverhalten, zu dem Wissen über kindliche Entwicklung, aber auch Zutrauen in sich als Eltern und in die Entwicklungsfähigkeit der Kinder gehören. Kinder brauchen keine perfekten Eltern, Erzieherinnen oder Pädagoginnen, aber liebevoll zugewandt und offen für die kindliche Eigenart sollten sie sein. Am eigenen Leib verspürte Beziehungsfreude macht beziehungsfähig. Erlebte Zuwendung, erfahrene eigene Möglichkeiten und Freiräume, aber auch befriedigend gespürte Passung und Gemeinsamkeit machen stark und unabhängig und – wie von Zauberhand – für andere interessant. Diese Erlebnisse geben das Gefühl, für jemanden wichtig zu sein, wirken zu können, nicht übersehen zu werden und Spuren zu hinterlassen.

An den 3 bereits genannten pädagogischen Anforderungen Selbstständigkeit, Bildung und soziale Kompetenz möchte ich kulturelle Beweggründe, sie als Erziehungsziele zu präferieren, und eingeschlagene Wege, sie pädagogisch durchzusetzen, nennen. Das eigentliche Spannungsfeld wird aber erst dann sichtbar, wenn die Beteiligung biologischer Impulse und ihre Bedeutung angesichts dieser Anforderungen herausgearbeitet werden. Wie könnte die genetische Bedarfsposition eines Kindes bezüglich dieser Entwicklungsziele aus dem Blickwinkel der Evolution aussehen?

Betrachten wir zuerst das Erziehungsziel „Selbstständigkeit“ etwas näher.
Der Trend zu einer möglichst frühen Autonomie ist weit verbreitet, vor allem in den USA, aber auch in Europa, beispielsweise in Holland. Füttern, Kommunizieren, Spielen und selbst Schmusen nach Plan sollen das Kind rhythmisieren, ihm hilfreiche und verlässliche Strukturen vorgeben, die ihm seine Orientierung erleichtern. Der Leitgedanke ist, dass eine möglichst frühe Selbstständigkeit das Risiko für zu viel Kontakt und zu viel Abhängigkeit verringere. Das Kind soll in die Lage versetzt werden, sich vergleichsweise früh allein beruhigen, allein beschäftigen zu können, sich allein anzuziehen, selbstständig zu essen, sich problemlos zeitweilig von den Eltern zu trennen und mit anderen Kontakt aufzunehmen, die ihm neue Anreize bieten. Frühe Selbstständigkeit macht sicher, ist die Idee dabei.

Das Schlafen nach Plan wird aufgrund vergleichbarer Intention durchgeführt, doch kommen hier spezielle Verwöhnängste hinzu, dass ein Kind, erst einmal auf den falschen Weg gebracht, nun zu lange in den Schlaf begleitet werden muss. Zu festen Zeiten im eigenen Bett allein einschlafen zu können, seine Erregung also selbst, ohne Hilfe von Körperkontakt, ohne Stillen und Trostsaugen, ja sogar ohne Anwesenheitssignale der Bezugsperson herunterregeln zu können, wird angestrebt. Verhaltenstherapeutische Konditionierungsgedanken spielen in diesem Zusammenhang eine herausragende Rolle.

Auf völlig anderem Wege steuert das sogenannte Attachment Parenting das Ziel kindlicher Selbstständigkeit an. Das Lebenswerk von William und Martha Sears basiert auf der Bindungstheorie und geht von einem bewusst aufeinander abgestimmten kontaktintensiven Beziehungsaufbau zwischen Kind und Eltern behutsam geführt in die vom Kind selbstinitiierte Selbstständigkeit über. Der Lebensstart ist durch viel Nähe, wenige Trennungen, Stillen, Tragen, gemeinsames Schlafen, kurze Beruhigungszeiten, emotionale Ansprechbarkeit, zugewandte liebevolle Erziehung und bewusste Abstimmung des Familienlebens auf Kind oder Kinder geprägt. Nicht das unabhängige Kind wird angestrebt, sondern das interdependente, das die Bedeutung von Gemeinsamkeit erlebt, die Kraft der Interaktion und des Dialogs kennt und deshalb gegenseitige Abhängigkeit, also Interdependenz, zu schätzen weiß.

Über eine gute Bindung zu verfügen, wird nicht als einschränkende Abhängigkeit verstanden, sondern genossen und als gestaltbarer Freiraum gesehen, der erst Aktivwerden und Autonomie möglich macht. Eine lange behütete Zeit, um zu lernen und herauszufinden, wie die Welt beschaffen ist und wie man darin seinen Platz findet, ist vorgesehen.

Gopnik, Kuhl und Meltzoff, drei führende amerikanische Entwicklungspsychologen, schreiben in ihrem Buch ‚Forschergeist in Windeln‘: „Die neue Entwicklungsforschung deutet darauf hin, dass unser einzigartiger evolutionärer Trick, unser wichtigstes Anpassungsinstrument, unsere beste Waffe im Überlebenskampf eben unsere verblüffende Fähigkeit ist, zu lernen, wenn wir Babys sind, und zu lehren, wenn wir erwachsen sind.“

In den letzten Jahren mehren sich die wissenschaftlichen Nachweise für ein intuitives Elternprogramm und hierauf abgestimmte Säuglingskompetenzen als evolutionsbiologische Anpassungsleistung, vollbracht während der gesamten Menschheitsgeschichte. Enger Kontakt und gegenseitige Kontaktsuche sind von Natur aus angelegt. Den Start bilden einfühlsame, für die jeweilige erwachsene Person typische, also immer etwa gleichartige und prompte Antwortreaktion auf kindliche Verhaltenssignale.

Eine gelungene Interaktion zwischen Eltern und Säugling ist dadurch gekennzeichnet, dass die elterlichen Verhaltensweisen zeitlich auf die des Säuglings bezogen sind, zuverlässig und mit hohem Wiedererkennungswert erfolgen sowie auf den Entwicklungsstand des Kindes und sein momentanes Befinden abgestimmt sind.

Im Normalfall stößt ein Kind bei seinen Dialogversuchen auf die passende Resonanz seitens seiner Eltern. Mikroanalysen zeigen, dass ein Drittel aller Interaktionen zwischen Mutter und Kind bereits sofort optimal koordiniert ablaufen. 70% aller nicht sofort passenden Interaktionen, also Missverständnisse zwischen den beiden werden innerhalb von 2 Sekunden bemerkt und repariert. Bereits mit wenigen Wochen kann ein Säugling so eine Verbindung zwischen seinem Verhalten und den spannungsmildernden, beruhigenden Verhaltensweisen der Bezugspersonen feststellen. Es ist sicher für Selbstständigkeitsgefühle wichtig, Spannungs- und Interaktionsregulierung als erfolgreiches Ergebnis eigener Bemühungen zur Kenntnis zu nehmen. Die Babywatcher haben im Säugling einen beeindruckenden Interaktionspartner entdeckt, mit einem reichen Verhaltensrepertoire zum sozialen Austausch ausgestattet sowie mit einer fast grenzenlosen Lernkapazität versehen, vorausgesetzt, die „Umwelt“ bietet die für einen Erfahrungsgewinn nötigen Sinneseindrücke liebevoll zugewandt und angemessen. Die Passung und beeindruckende Dialogstruktur der Interaktionen zwischen Säugling und Eltern sollten aber nicht vergessen lassen, dass die Beziehungsqualität in überwiegendem Maße von den erwachsenen Interaktionspartnern bestimmt wird.

Michael Tomasello vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig gelang der Beweis, dass mit 9 Monaten eine besondere Art kopernikanischer Wende im Entwicklungsgeschehen stattfindet. Während bis 9 Monate die Feinfühligkeit der Bezugsperson, ihre Sensibilität bei der Wahrnehmung, Spiegelung und sprachlichen Wiedergabe kindlicher Emotionen für den Entwicklungsfortgang ausschlaggebend ist, startet zwischen dem 9. und dem 12. Lebensmonat ein völlig neuartiges Geschehen, von dem zu vermuten ist, dass es zum ersten Mal die Bezeichnung spezifisch „menschlich“ verdient. Bis auf neurophysiologischer Ebene nachweisbar, also im Gehirn, findet im Entwicklungsgeschehen keine Trennung von Emotion und Kognition statt. „Gemeinsame Aufmerksamkeit“ ist der Begriff, der diese Sensation bezeichnet. Es handelt sich um vom Kind aktiv betriebene vorsätzliche emotionale Informationsabfrage und -verarbeitung. Hier startet die Übernahme sämtlicher kultureller Fähigkeiten.

Das Kind

  • richtet nun bewusst sein Verhalten am Verhalten eines anderen Menschen aus,
  • sein Blick folgt der Blickrichtung eines anderen Menschen,
  • sein Blick folgt dem Fingerzeig eines anderen Menschen,
  • imitiert die Aktionen anderer Menschen an Objekten,
  • zeigt auf erwünschte Objekte oder Aktivitäten,
  • deutet, um Aufmerksamkeit auf Objekte oder Aktivitäten zu lenken,
  • hält Gegenstände hoch, um sie anderen zu zeigen.

Das Kind wird selbstständig, es begibt sich aktiv auf die Suche nach Bewertungen von Gegenständen und Handlungen durch die Menschen, zu denen es eine enge Beziehung aufgebaut hat.

Wenden wir uns dem zweiten ausgewählten Erziehungsziel zu. Die Bildung, die Förderung kognitiver Entwicklung ist ein hochaktuelles Erziehungsziel, der Bildungsanspruch steht als eigenständiger Wert. Die Entwicklungszeit drängt, man hat Angst etwas zu versäumen, seit Zeitfenster und sensible Phasen die Entwicklungspotenzen einzuschränken scheinen.

Die emotionale Förderung lag bislang unabgefochten in der Familie, die kognitive Förderung in den Institutionen. Im Kindergarten, aber spätestens in der Schule, ist themenbezogene Motivationsarbeit zu finden, die Vermittlung von Informationen und Techniken und die Überprüfung ihrer Verarbeitung und Durchführung. Auf der Suche nach Lerntypen und kognitiven Strategien trat die Funktion des Informationsvermittlers immer mehr in den Hintergrund.

Dieses Bild muss angesichts der neuen Forschungsergebnisse ins Wanken kommen: es gibt keine Trennung zwischen Emotion und Kognition. Der Startimpuls für kognitive Leistungen ist emotional. Ein Prototyp für derartige Erkenntnisleistungen ist der Spracherwerb. Die Charakteristika des von den Eltern gesprochenen Babytalks sind trotz großer Unterschiede zwischen den Sprachen in allen Kulturen sprachmelodisch identisch. Elementare Botschaften werden beim Babytalk ausgetauscht, die erst heute als Beginn des Sprachverständnisses begriffen werden. Bei diesen Sprachmelodien wird das Kind aufmerksam, einmal wird es zur aktiven Teilnahme am Dialog aufgefordert, ein anderes Mal liebevoll begrüßt oder bestätigt, genauso aber auch getröstet und beruhigt, später vielleicht einmal ermahnt. Das vertraute Gesicht vermittelt ihm Emotionen, die mit Sprachlauten verbunden sind; mütterliche Mimik und die akustische Wahrnehmung bereiten den Säugling auf den Spracherwerb vor.

Es ist die mit dem Säugling aufgebaute Gefühlsbeziehung, die ihn veranlasst, auf den Sprechenden zu achten und schließlich selbst zu sprechen. Und es ist die Bindungsqualität, die das Entfaltungsausmaß angeborener Strategien zum Erfahrungserwerb bestimmt – das betrifft das Erkunden, Spielen, Nachahmen und phantasievolle Gestalten.

Der Entwicklungspsychologe Klaus Grossmann fordert angesichts dieser Ergebnisse, eine Revision des psychologischen Aufmerksamkeitsbegriffs vorzunehmen. Aufmerksamkeit wird bislang als „fehlende Ablenkbarkeit“ beschrieben, während eigeninitiativ gestartete emotionale Ansprechbarkeit weit mehr der Tatsache entspricht, dass in diesen Momenten Begabung, Interesse, Konzentration und Ausdauer „auf den Punkt genau“ gebündelt werden, mit Konsequenzen auf die Informationsspeicherung und ihre effiziente Wiederabrufbarkeit.

Bei der Analyse kindlicher Selbstbildungsprozesse ist man auf Grund der Befunde von evolutiv geschaffenen, angeborenen Lerndispositionen immer überzeugter. Das Kind ist aktiv auf der Suche nach Antworten, nach Informationen, am meisten erfreut über ein ausgeglichenes Maß an Innovation und Bestätigung, das ist neu und das kenne ich schon. Es sucht nach Invarianten, Konsequenzen und Kausalzusammenhängen, alles, um die Bedeutung von Urheberschaft und Wirksamkeit zu verstehen, um Teil seiner Umgebung zu werden und diese mitgestalten zu können.

Selbst beim Denken sind diese aktiven selbstgesteuerten Arbeitsprozesse nachweisbar. Man attestiert Kindern eine angeborene Theoriefähigkeit, denn zu allem, das sie wahrnehmen und erfahren, stellen sie eine momentan aktuelle Theorie auf, die sie bei neuen andersartigen Erfahrungen abwandeln oder verwerfen, sobald bessere Erklärungsmöglichkeiten eine andere Theorie wahrscheinlicher erscheinen lassen. Weich, klein, rund und bunt ist ein Ball. O, es gibt auch große, weiche, runde, bunte Bälle. Nein, hart und braun ist ein Ball. Aha, es gibt weiche und harte Bälle, kleine und große, bunte und einfarbige. Aber rund ist jeder Ball.

Hochleistungsfähige Lernmechanismen, jederzeit reversibel und höchst variabel, sind hierfür nötig, mit deren Hilfe Wissen spontan revidiert, umgeformt und vor einem Neueinsatz umstrukturiert werden kann. „Papa, was fällt dir ein, wenn du an letzten Sonntag denkst?“ fragt ein vierjähriges Mädchen seinen Vater und ist höchst verblüfft, dass er an die herrliche Wanderung denkt, während ihr die tollen Pommes frites einfallen, die es an der Raststätte bei der Heimfahrt gab. Die eigenen mentalen Aktivitäten werden mit denen anderer Menschen in Beziehung gesetzt, das „theory of mind-Konzept“ beschreibt diese Phänomene. Vorschulkinder akzeptieren bei ihren Interaktionspartnern eigene Bewusstseinsvorgänge. Sie verstehen, dass ihre Bewusstseinsinhalte das Ergebnis von eigenen Denkvorgängen und eigenen Wahrnehmungsakten sind und dies für das Bewusstsein anderer genauso zutrifft. Deshalb können beim Vergleich mit den Vorstellungen anderer Menschen individuelle Unterschiede und Fehlannahmen aufgrund eines partiellen Informationsdefizits auftreten. Empathiefähigkeit ist hier die Voraussetzung, eine emotionale Wahrnehmungsleistung, die allein durch frühe mit Bewertungen versehene Interaktionserfahrungen geschult wird.

Wir kommen zum letzten Begriff, der sozialen Kompetenz.
Babytreffs als wirkungsvolles soziales Netz für junge Mütter und Kinderkrippen zur qualitativ hochwertigen Betreuung für Kleinstkinder erwerbstätiger Eltern sind unter diesen Gesichtspunkten anerkannt. Sind beide Institutionen jedoch vor allem dazu gedacht, unter Gleichaltrigen möglichst früh soziale Kompetenzen zu wecken, so können sie sich in dieser Funktion nicht bewähren. Auf diesem Weg werden Kinder nicht schneller sozial aktiv oder gar sozial kompetent. Erst die Sicherheit im Umgang mit vertraut gewordenen Erwachsenen bereitet die Ansprechbarkeit und Motivation für Kinderkontakte vor. Die erwachsene Bezugsperson als Katalysator für eine Erweiterung und Spezialisierung auf Peerkontakte. Vertraut mit der Erzieherin werden andere Kinder und ihre Tätigkeiten plötzlich attraktiv. Jetzt kann man mitlachen, mitspielen, mitplanen und bald sogar mitstreiten. Diese Erkenntnisse bringen erste Früchte: das individuelle Bezugspersonensystem, die behutsame Eingewöhnung eines Kindes durch seine Erzieherin bei teilweiser Anwesenheit seiner Eltern, zeigt positive Auswirkungen auf ein schnelleres Reinkommen in die Gruppe der Gleichaltrigen.

Das Kind begibt sich aktiv auf die Suche nach Verhaltensmodellen, nach Einflussmöglichkeiten und Handlungsspielraum.

Hierher gehören auch aktiv betriebene aggressive Vorstöße als wichtiger Teil des sozialen Lernens während der kindlichen Entwicklung. Das Kind nimmt am Sozialleben teil, indem es die hier geltenden Normen abfragt, um sich in dieser Welt einnischen zu können. Wenn ein Kind sich zeitweilig aufdringlich und aufmüpfig verhält, erhöht es die Chancen auf eine schnelle und zweifelsfreie Antwort. Die braucht es, um die Verhältnisse klar zu sehen und wieder zur Ruhe zu kommen. Nicht nur seine Umgebung, auch seine Beziehungen gestaltet ein Kind nach Möglichkeit aktiv, um wohltuende Grenzen um seinen Freiraum zu erfahren. Rangordnungskämpfen und Besitzkonflikten wird man eher gerecht, wenn sie als Grenzsuche, Machttest und Beziehungscheck verstanden werden. Über intensiven Erwachsenenkontakt bewusst in die erweiterte Sozialgruppe eingeführt, präsentieren Kinder von sich aus Koordinations- und Synchronisationsleistungen höchster Perfektion, die von ihnen das gesamte Spektrum der Verhaltensweisen eines Gruppenmitglieds abverlangen, von klug geschmiedeten Allianzen bis beabsichtigten aggressiven Zwischenfällen.

Evolutionäre Impulse bereiten Selbstständigkeit, Bildung und Sozialkompetenz vor.

  • Sich aktiv auf die Suche nach Bewertung von Reaktionen, Handlungen und Situationen zu begeben,
  • sich aktiv auf die Suche nach Wissen, Können und Verstehen zu begeben,
  • sich aktiv auf die Suche nach Modellen, nach Möglichkeiten der Einflussnahme und eigenen Handlungsspielräumen zu machen,

bedeutet nach heutigem Wissenstand, seine Schutzfaktoren vor einer Flucht in Angst, Gewalt oder Sucht zu aktivieren und seine Ressourcen kennen zu lernen. Das Angebot des Originals, bevor die Suche nach Ersatz beginnt, heißt die Zauberformel moderner Suchtprävention. Menschen, die vom Lebensanfang an ihre Originalquellen für Wohlbefinden, gewaltfreie Wirksamkeit und Angstbeseitigung spüren und erleben, sind mit Erfahrungen und Ressourcen ausgestattet, die sie kritischer auf Kurzschlussreaktionen und resistenter auf Verlockungen eines Ersatzwohlbefindens reagieren lassen, denn sie kennen ihre echten Bedürfnisse und verfügen über erfolgreiche Wege zu deren Befriedigung, für die sie sich auch stark machen werden.

Es lohnt sich mit Sicherheit, auch weitere Beispiele elterlicher und pädagogischer Erziehungsansprüche auf ihre kulturellen und evolutionären Vorgaben zu überprüfen. Besonders aussagekräftig ist die Beobachtung, in welchen Punkten sich aktuelle kulturelle und uralte evolutive Ziele decken, und wo die Positionen unvereinbar erscheinen. Zur Nicht-Deckung kommt es, wenn kulturelle Ansprüche und der Weg, sie durchzusetzen, außerhalb des biologischen Möglichkeitsrahmen liegen und deshalb massive Defizite zurücklassen, die eine gefährliche Suche nach Ersatzbefriedigung, bis hin zur Sucht, notwendig werden lassen. Aber genauso beachtenswert und kulturell „überholungsbedürftig“ sind Diskrepanzen zwischen Natur und Kultur, bei denen beobachtbare biologische Verhaltenszusammenhänge nicht mehr mit von Menschen entwickelten Werten und Normen des Zusammenlebens übereinstimmen.


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