Warum Tragen das SIDS-Risiko senkt – von Dr. W. Sears

Wenn SIDS im Grunde eine Störung der Atmungskontrolle und neurologischen Unreife ist (und ich glaube, das ist es), dann hilft all das, das Risiko für SIDS zu senken, das helfen kann, das neurologische System eines Babys noch auszureifen. Exakt das ist es, was das Tragen von Babys tut.

Während des Tragens unserer eigenen Babys, nahm ich wahr, wie meine Atmung die ihre beeinflusste, speziell dann, wenn ich, mit einem schlafenden Baby in einem Tragetuch an meinen Brustkorb geschmiegt, stillsass. Wann immer ich einen tiefen Atemzug nahm, tat dies auch das Baby. Manchmal war es die Stimulanz das Heben und Senken meines Brustkorbs; andere Male war es die ausgeatmete Luft aus meinem Mund und meiner Nase, die über das Köpfchen oder die Wange strich und das Baby zu einem tiefen Atemzug anregte.

Haben Sie sich je darüber gewundert, warum Mütter in unseren Kulturen jahrhundertelang ihre Babys in selbstgemachten Tüchern trugen? Ich glaubte, der Grund für diese alte Sitte sei einfach, Babys vor den Gefahren des Dschungels zu schützen oder es der Mutter zu erlauben, ihr Handwerk zu tun. Falsch! Als ich die Erziehungsstile unserer Kulturen erforschte, interviewte ich afrikanische Mütter, die ihre Babys  in Tüchern trugen, die eine Erweiterung ihrer eigenen Kleidung waren. Sie waren sich einig, dass das Tragen der Babys ihre Kinder vor Gefahren schützte, aber es war nicht der Hauptgrund für das Tragen. Tatsächlich sagten sie: „Es macht das Leben der Mutter leichter“ oder „Es tut gute Dinge für’s Baby“. „Was für gute Dinge?“, fragte ich nach. Diese Mütter gaben zur Antwort: „Die Babys scheinen glücklicher“ oder „Sie schreien weniger“ oder „Sie scheinen zufriedener“ oder „Die Babys wachsen besser“.

Notiz: diese Beobachtungen wurden nicht von Müttern gemacht, die den „klassischen“ Erziehungsstil pflegen, Bücher über Baby-Bonding lesen oder sich auf wissenschaftliche Studien stützen. Das waren Mütter, deren „Ursprung“ ihre eigene Kraft der scharfen Beobachtungsgabe und jahrhundertelange Tradition ist, beides sagte ihnen, dass Babys besser gedeihen, wenn sie in Tüchern getragen werden. Jetzt haben moderne Forschungen nachgewiesen, was diese intuitiven Mütter schon lange wissen: Irgendetwas Gutes passiert mit Babys, die viel Zeit an versorgende Bezugspersonen gekuschelt verbringen.

Hier die Gründe:

1. Das Tragen von Babys gibt eine sichernde Verbindung. Das Tragen hat einen regulierenden Einfluss auf das Baby, vornehmlich durch das Gleichgewichtsorgan; in jedem Ohr zu finden, kontrolliert es den Gelichgewichtssinn. Es ist, als ob drei kleine stabilisierende Tischler dahinterstecken würden – einer hält die Seitwärtsbewegungen in der richtigen Spur, ein anderer die Auf~ und Abwärtsbewegungen und der dritte die Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen – alle funktionieren zusammen, um den Körper im Gleichgewicht zu halten. Immer wenn das Baby bewegt wird, bewegt sich die Flüssigkeit in diesen Ebenen gegen kleine, vibrierende Flimmerhärchen, die Meldungen an das Gehirn des Babys senden und ihm helfen, den Körper auszubalancieren.

In der Gebärmutter wird das sensible Gleichgewichtsorgan des Babys durch die fetalen Erfahrungen von fast kontinuierlicher Bewegung angeregt. Das Tragen bietet die selbe Art dreidimensionaler Bewegung und ruft dem Baby die Erfahrung der Bewegung und Balance, die es in der Gebärmutter genoss, ins Gedächtnis zurück. Der mütterliche Gangrhythmus, an den sich das Baby in der Gebärmutter gewöhnt hat, wird durch das Tragen in der „externen Gebärmutter“ erneut erlebt.

Aktivitäten wie Schaukeln und Tragen regen das Gleichgewichtsorgan des Babys an. Diese Stimulation ist das kleinste, gefälligste Rüstzeug, um Babys Atmung und Wachstum zu unterstützen, speziell für frühgeborene Kinder – jene mit dem höchsten Risiko für SIDS. Manche Studien zeigten, dass frühgeborene, professionell überwachte Babys in schwankenden Wasserbetten besser wachsen und weniger Apnoephasen hatten, als andere Frühgeborene (obwohl eine andere Studie dies bestritt).

Babys erkennen selbst, dass sie diese Gleichgewichtsstimulanz brauchen; Kinder, die diesbezüglich benachteiligt werden, versuchen das oft selbst, mit weniger effizienten Bewegungen wie sich-selbst-schaukeln, in Gang zu setzen. Forscher glauben, dass diese Stimulation einen regulierenden Effekt auf die gesamte kindliche Physiologie und motorische Entwicklung hat.

Känguruhbetreuung
Neugeborenenstationen begannen eine Gleichgewichtsstimulationsmethode zu nutzen, die Känguruh-Betreuung genannt wird; dabei werden Frühgeborene Haut an Haut an Mutters oder Vaters Brustkorb gewickelt. Die Eltern schaukeln, halten und bewegen sich vorsichtig mit dem Baby. Die Schaukelbewegung, der Hautkontakt und die rhythmische Bewegung des elterlichen Brustkorbs durch die Atmung produziert den folgenden vorteilhaften Effekt.

Die Babys zeigen:

– stabilere Herzfrequenzen
– stabilere Atmung
– weniger Episoden periodischer Atmung
– eine gesündere Sauerstoffsättigung im Blut
– schnelleres Wachstum
– weniger Schreien und mit zunehmender Zeit auf der ruhigen Station Aufgewecktheit
– besseren Schlaf

Forscher glauben, dass die Känguruh-Betreuung als RegulatorIn auf die Physiologie des Babys, inklusive die Erinnerung ans Atmen, auch den elterlichen Part erleichtert. In anderen Experimenten wurden Kinder mit Atmungsschwierigkeiten neben einen Teddy gelegt, der einen Mechanismus hatte, so dass er zu atmen schien, diese Babys hatten ebenfalls weniger Apnoephasen. Als dieser „Durchbruch“ der Teddy-Technik in den Zeitungen stand, schrieb ein Leser „Warum wurde nicht die richtige Mutter benutzt?“.

SIDS Stories
Zum Beispiel, wie Nähe die Atmung eines Babys reguliert, teilte eine Mutter die folgende Geschichte mit mir: „Mein Baby wurde vier Wochen zu früh geboren mit 2515 g. Ich hielt sie den ganzen Tag lang und legte sie nie in ein Körbchen. Sie stillte gut, war gesund, rosig und atmete normal. An dem Nachmittag, als die Kinderärztin kam, um sie zu untersuchen, brachte sie sie auf die Station und legte sie in ein Körbchen. Sobald unser Baby allein in dem Körbchen lag, hatte sie einen Atmungsaussetzer, der die Neonatalogen alarmierte, und sie brachten sie für neun Tage auf die Intensivstation. Sie fanden nie heraus, warum sie die Apnoephasen hatte, obwohl sie dachten, es seien „leichte Anfälle von Unruhe“. Alles, was sie zu tun hatten, war sie zu berühren und sie begann wieder zu atmen. Sie hatte nie Apnoephasen, wenn sie in meinen Armen war, nur wenn sie allein lag. Die Doktoren sagten mir, sie wäre eine Höchstrisikokanditatin für SIDS. Sie überzeugten mich davon, dass sie zu Hause einen Überwachungsmonitor bräuchte. Ich war einverstanden, doch es stellte sich als Alptraum für die ganze Familie heraus. Sie sagten mir, ich dürfe sie nicht mit in mein Bett legen, also schlief sie allein mit dem Monitor. Der Monitor schlug jede Nacht an, möglicherweise Fehlalarme, und niemand konnte schlafen. Ich liess sie auf dem Monitor, aber legte sie nahe an mich in mein Bett. Wir beide schliefen wundervoll, und der Monitoralarm tönte nie wieder. Ich bin ganz sicher, dass meine Präsenz sie solange zum Atmen anregte, bis sie aus ihren Apnoetendenzen herausgewachsen war. Meine Berührungen und meine Nähe waren alles, was sie brauchte. Tatsächlich, solange sie immer in meinen Armen war, im Krankenhaus hat ihr niemand angesehen, dass sie je „Atmungsprobleme“ hatte.

2. Bewegung reguliert Babys. Bewegung besänftigt Babys. Getragene Kinder zeigen eine ausgeprägte ruhige Aufgewecktheit, der Verhaltensstatus, in dem Kinder am besten interagieren und von ihrem Umfeld lernen können. Forscher glauben, dass während dieses Verhaltensstatus‘ die gesamte kindliche Physiologie besser arbeitet.

3. Getragene Kinder weinen weniger. Eltern berichten in meiner Praxis gewöhnlich: „So lange ich sie trage, ist sie zufrieden!“ Eltern unruhiger Kinder, die das Tragen versuchen, berichten, dass sie zu vergessen scheinen, unruhig zu sein. Das ist mehr als mein eigener Eindruck. 1986 berichtete ein Team von KinderärztInnen in Montreal von einer Studie mit 99 Mutter-Kind-Paaren; die Hälfte von ihnen wurde gebeten, ihr Kind mindestens drei Stunden extra zu tragen und ihnen wurden Tragehilfen angeboten. Die Eltern dieser Gruppe wurde ermutigt, ihre Kinder den ganzen Tag lang ohne Rücksicht auf den Zustand des Kindes zu tragen, und nicht nur als Reaktion auf Unruhe oder Weinen, obwohl es die übliche Praktik in westlichen Gesellschaften ist, das Baby nur hochzunehmen und zu tragen, wenn es zu weinen beginnt. In der Kontroll- oder Nicht-getragenen-Gruppe, wurden den Eltern keine spezifischen Instruktionen zum Tragen gegeben. Nach sechs Wochen waren die zusätzlich getragenen Babys weniger unruhig und weinten 43% weniger als die der Nicht-getragenen-Gruppe. Anthropologen, die durch die Welt reisen und Praktiken des Kindertragens anderer Kulturen studieren, stimmen überein, dass Kinder in Baby-tragenden Kulturen erheblich weniger weinen. In westlichen Kulturen messen wir Babygeschrei in Stunden pro Tag, aber in anderen Kulturen wird Schreien in Minuten gemessen. Wir sind in dem Glauben, dass es „normal“ für Babys sei, viel zu schreien, aber in anderen Kulturen wird das als Norm nicht akzeptiert. In diesen Kulturen sind Babys normalerweise „oben“ in den Armen und werden nur zum Schlafen abgelegt – direkt neben die Mutter. Wenn die Eltern ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen, ist das Baby in jemand anderes Armen.

Zu den physiologischen Effekten der Gleichgewichtsstimulanz scheinen noch psychologische Vorteile hinzuzukommen. Tragetuchbabys scheinen ein Gefühl von Richtigkeit zu zeigen, das es ihnen erlaubt, sich an all das unfamiliäre in der Welt um sie herum, dem sie jetzt ausgesetzt sind, anzupassen und vermindert ihre Angst und ihr Bedürfnis, sich aufregen zu müssen. Wenn das Baby das rhythmische Atmen der Mutter spürt, während es Bauch an Bauch und Brustkorb an Brustkorb getragen wird, dient die tragende Mutter als Regulatorin für die Biologie ihres Kindes.

Mit freundlicher Genehmigung von SIDS Berlin


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